— STADT (BE)SCHREIBEN

Tankstelle mit weiten Aussichten

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Frau Winter*
Lokale Expertin
*Name auf Wunsch geändert

wurde 1964 geboren und verbrachte ihre Kindheit in Prenzlauer Berg. Heute wohnt sie in Hellersdorf. Frau Winter ist ursprünglich Diplom-Gartenbauingenieurin und wurde nach der Wende Einzelhandelskauffrau. Sie arbeitete vier Jahre lang als Versicherungsvertreterin und war entsprechend viel unterwegs. Vor 20 Jahren wurde ihr Mann Pächter der neu erbauten Aral-Tankstelle. So wechselte Frau Winter von Vielfahrerin und Kundin vieler Tankstellen zu Betreiberin des eigenen Tankgeschäftes.
Die Aral-Tankstelle liegt auf der südlichen Straßenseite der Frankfurter Allee. Vom Kiez aus wird sie höchstens als kleiner, blauer Anhang des frisch renovierten Q216 wahrgenommen. Wer sie zu Fuß erreichen will, muss entweder durch die U-Bahn-Unterführung gehen oder das nicht ungefährliche Überqueren der Schnellstraße in Kauf nehmen.

Manch einen Stammkunden kenne sie auch schon zwanzig Jahre, erzählt Frau Winter. Gerade vor dem Beginn des Interviews habe sie einen Kunden begrüßt, der von Beginn an hier einkauft. Die Stammkundschaft sei gerade bei einer Tankstelle sehr wichtig, sie sei das A&O ihres Bestehens, unabhängig von ihrer Lage, weil es so viele andere gebe – auch, wenn gerade diese Lage, nah an der Innenstadt und zugleich an einer wichtigen Schnellstraße, auf den ersten Blick als äußerst günstig erscheinen mag.

Viele der Stammkunden kommen aus dem Gebiet nördlich der Frankfurter Allee. Aus dem neuen Q216 kommen nicht so viele, da viele unter ihnen Studenten oder Hartz-IV-Empfänger sind (die Wohnungen sind ja nach den maximalen Harz-IV-zulässigen Flächen geschnitten), für die die Tankstellenpreise zu hoch sind. Die Kundschaft kommt aber natürlich auch von der Schnellstraße; ob kleine Handwerker, Vertreter oder LKW-Fahrer, die hier tanken und zum Mittag eine Bratwurst bestellen. Die Frankfurter Allee ist eine Ost-West-Achse nach Polen und Russland, und die Aral-Tankstelle bildet eine der vielen Haltestellen.
Gerade weil die polnische Grenze so nahe liegt, hat das Tankstellenpersonal aber auch nicht selten mit gestohlenen Autos zu tun und muss die Polizei anrufen.

Das Personal ist ebenfalls schon lange da: der zuletzt hinzu gekommene Angestellte arbeitet bereits seit rund 10 Jahren hier. Die meisten Azubis, berichtet Frau Winter, wurden im Anschluss an ihre Ausbildung eingestellt, und wenn einer geht, dann nur, weil er aus persönlichen Gründen nicht mehr im 3-Schicht-System arbeiten kann. Es herrscht also eine freundliche Gemeinschaft zwischen Mitarbeitern und Kunden, die durch den langjährigen Kontakt entstanden ist.
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Die Tankstelle dient informell auch als Anlauf- und Treffpunkt der Einsamen. Frau Winter sieht hier eine Parallele zu den ehemaligen Tante-Emma-Läden, „wo sich alle getroffen haben, die keiner zu Weihnachten haben will“. Die Tankstelle hat ja jeden Tag rund um die Uhr geöffnet. Es treffen sich auch Rentner hier, die in der Gegend gearbeitet haben und sich zum Kaffeetrinken verabreden.

In die Frankfurter Allee gegenüber ging Frau Winter früher öfter mal, um die Einzelhandelsläden zu besuchen. Es gab mal einen Haushaltswarenladen, erzählt sie, sowie hochwertigere Schuh- und Kleidungsläden, die aber verschwunden sind – nicht zuletzt, weil in den letzten Jahren so viele Einkaufszentren mit allen möglichen Läden entstanden sind. Seitdem interessieren sie die Läden in der Frankfurter Allee Nord nicht mehr. Die Straße sei nicht mehr lebendig, sagt sie.
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Amandine Descamps
Architekturstudentin
studiert an der UdK und kommt ursprünglich aus der Nähe von Paris. 2006 zog sie nach Deutschland.